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Gerald Hüther im Gespräch - Hirnforscher warnt: So wie wir unsere Kinder lieben, machen wir sie unglücklich

Dieser Artikel ist zuerst erschienen auf Focus Online

Für den Hirnforscher Gerald Hüther steht fest: Um glücklich zu sein, muss ein Kind spüren, dass es um seiner selbst willen geliebt wird. Ist das nicht der Fall, verändert sich das ganze Wesen des Kindes. Er definiert die Formel für ein glückliches Aufwachsen.

Eltern lieben ihre Kinder. Sie wollen, dass sie glücklich sind, dass es ihnen einmal besser geht. Dafür tun Eltern alles.

Das Problem ist jedoch, dass all diese guten Absichten auf den Vorstellungen der Eltern beruhen: ihren Vorstellungen von Glück, ihren Vorstellungen von Erfolg.

Sie möchten, dass ihr Kind sich höflich und aufmerksam verhält, gut in der Schule ist, adäquaten Freizeitbeschäftigungen nachgeht. Sie wollen, dass es beliebt ist. Sie beschützen ihre Kinder, wo sie nur können. Sie greifen in ihr Leben ein.

Eltern stehen heute unter enormem Druck

Sie tun all das aus Liebe zu ihren Kindern. Und aus Angst, dass ihre Kinder in dieser globalisierten Leistungsgesellschaft nicht mithalten können.

Es ist nicht leicht, heute ein Kind zu erziehen. Eltern stehen mehr denn je unter Druck. Deshalb hilft es, sich bewusst zu machen, was Kinder wirklich brauchen, um glücklich zu sein.

Kaum ein deutscher Wissenschaftler hat sich so eingehend mit dieser Frage beschäftigt wie Hirnforscher Gerald Hüther. In seinem Buch "Rettet das Spiel!" (Hanser Verlag) plädiert er dafür, Kindern wieder mehr Zeit für das freie Spiel einzuräumen.

Hüther hat eine sehr klare Antwort darauf, was Kinder brauchen, um glücklich zu sein:

"Ein Kind muss spüren, dass es so wie es ist richtig ist. Dass es um seiner selbst willen und bedingungslos geliebt wird. Das ist die wichtigste Erfahrung, die jedes Kind braucht", sagte Hüther FOCUS Online.

Es gibt nur sehr wenige Kinder, die um ihrer selbst willen geliebt werden

Die meisten Eltern sind an dieser Stelle vermutlich überzeugt, dass ihr Kind diese Erfahrung gemacht hat. Jeder würde wohl von sich behaupten, dass er sein Kind bedingungslos liebt.

Aber stimmt das wirklich? Hüther ist anderer Meinung.

"Es gibt ganz wenige Kinder auf der Welt, die das Glück hatten, um ihrer selbst willen geliebt zu werden. Und diese Kinder zeichnen sich alle dadurch aus, dass sie sich nicht anstrengen müssen in der Welt, um Bedeutsamkeit zu erlangen", so Hüther.

Kinder sind dann am glücklichsten, wenn sie nicht das Gefühl haben, sich anstrengen zu müssen, um von ihren Eltern geliebt zu werden.

Doch diese Erfahrung machen viele von ihnen eher selten. Viele Kinder haben zum Beispiel das Gefühl, dass ihre Eltern sie mehr lieben würden, wenn ihre Schulnoten besser wären. Oder wenn sie immer artig und hilfsbereit wären, nie widersprechen oder in Wut ausbrechen würden.

Wird ein kleines Kind zum Beispiel für einen Wutanfall bestraft, in ein anderes Zimmer geschickt oder ausgeschimpft, lernt es: Meine Gefühle sind falsch. Ich muss sie unterdrücken, damit Mama und Papa mich wieder lieb haben. Kinder würden fast alles tun, um von den Eltern geliebt zu werden.

Kinder brauchen Unterstützung und Hilfe

"Wenn ein Kind nicht erlebt, dass es bedingungslos geliebt wird, hat es ein Problem", sagt Hüther. "Denn Kinder sind unglaublich auf ihre Eltern angewiesen. Sie können nur überleben, wenn sie deren Unterstützung und Hilfe bekommen."

Aus diesem Grund kommen Kinder bereits mit einem sicheren Band des Vertrauens und der Verbundenheit zu ihren Eltern zu Welt. Sie lieben ihre Eltern und sie sind bereit, alles zu tun, um ebenfalls geliebt zu werden, damit sie sich weiterhin auf den Schutz und die Fürsorge der Eltern verlassen können. Es liegt in der Natur des Menschen.

Doch diese natürliche Verbindung zu den Eltern ist gleichzeitig sehr empfindlich.

"Wenn ein Kind zum Objekt elterlicher Erwartungen, Wünsche, Ziele, Vorstellungen oder Maßnahmen gemacht wird, dann zerreißt dieses Band zu den Eltern", sagt Hüther. "Und das geht mit einem großen Schmerz einher."

Was im Gehirn von Kindern passiert, die nicht bedingungslos geliebt werden

Der Schmerz ist sogar so groß, dass er noch im Gehirn von Erwachsenen nachgewiesen werden kann.

Bringt man erwachsene Männer in einem Computertomographen in eine Situation, in der sie sich ausgeschlossen fühlen, wird ein bestimmter Bereich im Gehirn aktiviert. Und zwar der Bereich, der auch aktiviert wird, wenn man ihnen körperliche Schmerzen zufügt.

Kinder, die spüren, dass sie nicht so geliebt werden, wie sie sind, empfinden also im Grunde sehr großen Schmerz. Der Moment, in dem Kinder ihre Unbeschwertheit verlieren.

Die natürliche Reaktion darauf ist der Versuch, diesen Schmerz loszuwerden. Und in diesem Moment verlieren die Kinder ihre Leichtigkeit; ihre Unbeschwertheit.

"Die meisten Kinder reagieren auf diesen Schmerz, indem sie sich anstrengen, das zu machen und so zu werden, wie ihre Eltern das wollen", sagt Hüther.

"Und da das dann später in der Schule, in der Universität und überhaupt im Leben nie aufhört, bleiben die Kinder ständig außenorientiert und sind immer abhängig von der Bewertung anderer Menschen." Und es kommt noch schlimmer:

"Wenn die Kinder sich derart verbiegen, ist der Schmerz zwar vorbei, aber sie führen im Grunde nie ein glückliches Leben, weil sie nie loslassen können. Sie sind immer unter Anspannung und müssen sich immer zu anstrengen", sagt der Hirnforscher.

Ein Leben voller Anstrengungen

Auch hier bietet sich das Schulnoten-Beispiel an: Kommt das Kind mit einer vier im Vokabeltest nach Hause und macht die Erfahrung, dass seine Eltern darüber unglücklich, oder gar enttäuscht sind, spürt es, dass etwas falsch gelaufen ist.

Beim nächsten Test wird sich das Kind vielleicht mehr anstrengen. Es wird mit einer besseren Note nach Hause kommen und die Erfahrung machen, dass seine Eltern viel zufriedener mit ihm sind.

Das Kind hat sein Problem also scheinbar gelöst. Es hat getan, was seine Eltern sich gewünscht haben und wurde mit ihrer Zuneigung belohnt.

Im Grunde weiß es jedoch, dass es so wie es ist, nicht richtig ist. Es weiß, dass es sich sein ganzes Leben lang anstrengen muss, um die Zuneigung zu bekommen, nach der jeder Mensch sich sehnt.

Was aus Kindern wird, die nicht bedingungslos geliebt werden

Die Folge ist häufig, dass diese Kinder zu Menschen heranwachsen, die sich Bedeutsamkeit verschaffen müssen.

"Manche Menschen müssen sich zum Beispiel dadurch Bedeutsamkeit verschaffen, indem sie viel Geld verdienen und in hohe Positionen gelangen, in denen sie viel Macht und Einfluss auf andere haben", sagt Hüther.

Ein Kind, das sich nicht gesehen fühlt, müsse anderen schließlich zeigen, dass es noch da ist.

"Wir würden die Klugscheißer, Besserwisser und Alleskönner dieser Welt loswerden, wenn es uns nur gelänge, unsere Kinder so großzuziehen, dass sie nicht das Gefühl haben, sich anstrengen zu müssen, um von uns geliebt und um gesehen zu werden."

 

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