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Praktische Gewaltprävention mit jungen Menschen, Ron Halbright

Gewalt, Eskalation und Konflikte schlichten

Auszug aus dem PDF-Download mit Arbeitsmaterial „Peacemaker“ (Bestell-Nr. 900000)

Autor: Ron Halbright, NCBI Schweiz www.ncbi.ch

gewaltprävention

Einleitung

Die Idee, dass Gewalt nicht zum Alltag der Kinder gehören sollte, ist noch relativ neu. Körperliche Strafe zu Hause oder in der Schule, Schlägerei, Mobbing, Betatschen und Bandenkriege wurden bis vor kurzem als normale, sogar für die gesunde Entwicklung nötige Erlebnisse betrachtet. Als die Lehrkräfte die Rute ablegten und die Rechte von Kindern allmählich anerkannt wurden, stellte sich die Frage, ob eine Schule ohne Gewalt möglich sei. Die Gewaltlosigkeit von FriedensnobelpreisträgerInnen wie Mahatma Gandhi, Martin Luther King, Jr. und Millionen von anonymen Menschen in den Bürgerrechts-, Frauen- und Umweltschutzbewegungen sowie die Bereitschaft Nelson Mandelas zur Versöhnung nach mehr als 25 Jahren im Gefängnis haben die pädagogische Gewaltprävention inspiriert. Engagierte Lehrkräfte und andere Erziehende haben sich gefragt, wie Mediation, Versöhnung und Respekt als soziales Lernen vermittelt werden könnten.

1992 habe ich die besten Ideen, die ich hierzu in den USA finden konnte, gesammelt und sie in Zusammenarbeit mit anderen den schweizerischen Verhältnissen angepasst. Meine Hauptquelle war Cherie Brown, Gründerin des National Coalition Building Institute, eine international tätige, in den USA beheimatete Organisation, die sich auf die Ausbildung von Teams von MultiplikatorInnen im Bereich „Vorurteile und Rassismus“ und „Konfliktlösung“ spezialisiert hat. Diesen Ansatz habe ich mit anderen Ansätzen aus den USA und Deutschland kombiniert, um das Workshop-Modell „Gewalt überall – und ich?“ und bald danach „Peacemaker“, ein Streitschlichter-Programm für Schulen, zu entwickeln.

Ursprünglich wurden diese Ansätze nach einer Vergewaltigung unter Jugendlichen aus dem Jugendtreff als schulisches Gewaltpräventionsprojekt der Jugendarbeit Wettingen, wo ich damals arbeitete, konzipiert. Der Erfolg dieses Projektes führte zur Ausbreitung und Weiterentwicklung.

Heute werden diese Workshops jährlich von Zehntausenden von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in der Schweiz, Deutschland, Österreich, England, Kanada und den USA besucht. Daraus sind erprobte Übungen entstanden, die wirksam, breit anwendbar und relativ schnell erlernbar sind.

 

Zielgruppe

Dieses Material ist für die Gruppenarbeit mit Kindern und Jugendlichen im Alter von 7 bis 18 Jahren in und außerhalb der Schule geeignet. Meistens wird Gewaltprävention dieser Art in Schulen durchgeführt, deshalb werden die Gruppenleitung als „Lehrkraft“ und die Teilnehmenden als „SchülerInnen“ bezeichnet, aber dieser Ansatz wurde auch schon in der Jugendarbeit, in Jugendverbänden, in der Lehrkraftweiterbildung, in Heimen und anderen Situationen erfolgreich durchgeführt. Es bleibt der Leitung überlassen, die Sprache und Beispiele auszuwählen, die für den eigenen Kontext passend sind. Wir wollten diese Ansätze einem breiten Publikum zugänglich machen. Darin liegt jedoch eine Gefahr. Diese Übungen haben einen inneren Zusammenhang, der nur mit Hilfe von Erfahrung ersichtlich wird. Wenn man lediglich eine oder zwei Übungen auswählt, wird die Wirksamkeit untergraben. Die Leitung dieser Übungen beruht auf einem tiefen Respekt vor Kindern und Jugendlichen. Nur so kann eine sichere Atmosphäre aufgebaut werden, in der eigene Gewalterfahrungen ausgetauscht, reflektiert und entlastet werden können.

 

Das Klima der Offenheit

Bei all diesen Aufgaben zur Gewaltprävention ist es wichtig herauszuspüren, inwiefern ein Klima der Offenheit möglich ist. In gewissen Gruppen besteht das Vertrauen bereits. Manchmal ist dazu allerdings eine längere Aufbauarbeit erforderlich. Ein übereilter Versuch, persönliche Themen anzusprechen, kann Ängste erzeugen und die Offenheit untergraben. Diese Arbeit basiert auf einigen Annahmen, die ich hier zuerst kurz erklären möchte: Gewalt ist vielfältig, verbreitet und alltäglich. Es ist wichtig für die Gewaltprävention, Gewalt zu enttabuisieren. Die meisten Menschen sind durch die reale und virtuelle psychische und körperliche Gewalt so überfordert, dass sie Mühe haben, offen und klar darüber zu denken und zu reden. In einer sicheren Atmosphäre des Austausches wird Gewalt verständlicher und das Mitgefühl und die Motivation für Gewaltprävention werden erhöht.

Obwohl Gewalt schrecklich sein kann, ist eine Stimmung der Hoffnung und Leichtigkeit nötig, um Platz für Betroffenheit und Trauer zu schaffen. Moralisieren erzeugt Widerstand und Heuchelei. Schuldzuweisungen blockieren die ehrliche Auseinandersetzung mit Gewalt. Auch die Gewalttätigen haben ihre Opfererlebnisse. Menschen sind grundsätzlich gut. Wenn sie andere verletzt haben, ist das ein Zeichen dafür, dass sie selbst verletzt worden sind. Das heißt aber nicht, dass Menschen nicht für ihr Handeln verantwortlich sind.

Gewalt fängt meistens mit Beleidigungen, Hänselei und Ausgrenzung an, die oft mit Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Hierarchie zu tun haben: Fremdenfeindlichkeit, Leistungsunterschiede, Schönheit oder Sportlichkeit, Behinderung, soziale Schicht oder Beruf der Eltern usw. Um Gewalt vorzubeugen, hilft es sehr, auch diese Themen anzusprechen. Wer Frieden will, muss Gerechtigkeit stiften.

Gewaltprävention muss auch geschlechtsspezifisch gestaltet werden. Solange Jungen als „Feigling“ gelten, wenn sie nicht bereit sind zu kämpfen, oder Mädchen als „Kampfsau“, wenn sie sich wehren, gehört eine Reflexion der Geschlechterrollen ins Programm. Alle können lernen, Gewalt vorzubeugen. Es ist nicht nur die Verantwortung der Erwachsenen oder der eng Beteiligten, auch ZuschauerInnen können Zivilcourage zeigen und konstruktiv eingreifen. Gewaltprävention ist wie Bruchrechnen – es wird nicht an einem Tag gelernt.

Die meisten Leute arbeiten ihr ganzes Leben daran, mit Konflikten konstruktiv umzugehen. Lektionen, Friedenstage oder Projektwochen gehören ins Schulprogramm. So können diese Ideen in die Schulkultur eingebaut werden. Letztendlich ist jedoch das eigene Verhalten als Vorbild das wichtigste Mittel, um anderen Konfliktlösung nahe zu bringen.

 

Definitionen von Gewalt

Es gibt verschiedene Definitionen von Gewalt. Hier benutzen wir eine sehr weit gefasste Definition: Gewalt verletzt seelisch oder körperlich.(1) Diese breite Definition erleichtert die Auseinandersetzung und macht sie für alle zugänglich. Ob ein böser Blick oder ein Faustschlag mehr wehtut, können nur die Betroffenen beurteilen. 

(1) In Kinder- und Jugendgruppen soll die enge Verbindung zwischen psychischer und körperlicher Gewalt thematisiert werden. Es ist oft unklar, welche verletzender wirkt. Im Umgang mit häuslicher Gewalt ist es dagegen nützlich, Gewalt als körperliche Gewalt zu definieren, sodass der Täter die psychische Gewalt des Opfers nicht als Rechtfertigung seines Übergriffes missbraucht.

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